Kein Schultag ist derzeit wie sonst am Gymnasium Michelstadt in einer Zeit, die in jedem dritten Satz den Namen der neuen Virusinfektion im Munde führt und aufgrund ihrer Bedrohung genau dieses wichtige Organ zur Zeit gebietet zu bedecken.

Doch deshalb den Mund verbieten lassen sich heutzutage weder Schülerinnen und Schüler noch ihre Lehrkräfte – unsere demokratische Verfassung sieht freie Meinungsäußerung als eines der Grundprinzipien zivilisierter Nationen vor. Sie ist auch Bestandteil unserer Lehrpläne, weshalb die Erinnerung an eine Zeit, in der ein ganz anderes Virus die Köpfe der Menschen befallen hatte und ganzen Bevölkerungsteilen nicht nur die freie Rede, sondern allmählich alle Grundrechte – bis hin zum Leben selbst – nahm, wach gehalten werden muss.

Kein Tag wie jeder andere ist daher der 9. November, jedes Jahr, seit 1938.

Die 2018 am Gymnasium Michelstadt etablierte Arbeitsgemeinschaft Courage (Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage) hatte sich unter der Federführung von Max Weyrich, Leonard Preß, Lisa Schwarz, Paul Meyer sowie Phillip Weber in Erinnerung an die Reichspogromnacht vor 82 Jahren für den Schulvormittag daher etwas ganz Besonderes ausgedacht: eine Art modernen Flashmob zum Gedenken der damaligen Opfer…

Es ist 8.28 Uhr, mitten in der ersten Doppelstunde des Schultages, die sonst keine Pause hat. Aber es gongt. Am Drücker der Medienapparatur im Sekretariat stehen Oberstufenschüler Max Weyrich (Q3) und Melanie Schimpf, die als studierte Philosophin sowie Ethik- und Kunstlehrerin das Projekt pädagogisch betreut. Vorab hat die AG das Kollegium in einem Infoschreiben darum gebeten, das Pausenzeichen gegenüber den Schülerinnen und Schülern zu ignorieren, sich aber darauf vorzubereiten, wenige Minuten später unvermittelt und ohne Angabe von Gründen – das Prozedere ist mit den Betroffenen abgesprochen – zwei Klasseninsassen vor die Tür zu schicken. Das ist im modernen Schulalltag sowieso schon ein merkwürdiges Vorgehen, wurde aber noch gesteigert, indem alle Lehrkräfte danach ohne Erklärung im Unterrichtsgeschehen fortfahren sollten. Erst weitere drei Minuten später erfolgte die aufrüttelnde Durchsage, gemessen vorgetragen von Max Weyrich, und für ein paar Momente der Besinnung stand der sonstige Schulalltag still. „Zunächst bitte ich eine jede und einen jeden von euch, sich umzuschauen. Wie ihr feststellen werdet, haben sich in eurer Mitte Lücken aufgetan. Vielleicht ist es euer Sitznachbar, die gute Freundin seit der Grundschule oder der Klassenbeste, der oder die vor einigen Minuten aus dem Raum geworfen wurde – und das ohne Vorwarnung oder Begründung. Euer Unterricht allerdings ging weiter, als wäre nichts passiert.“

Und dann erfahren die Jüngeren, die es vielleicht noch nicht wussten: Auch in Michelstadt wurde der Innenraum der Synagoge zerstört, wurden diverse Läden jüdischer Betreiber ohne Vorwarnung geplündert und verwüstet, wurden Menschen aus ihren Familien, später aus ihrem Leben gerissen. Hier vor Ort waren sie über Nacht in einer Zelle im Rathaus eingesperrt, wurden dann ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Kaum jemand aus den Häusern und Wohnungen, die sich heute bei einem Rundgang durch die Altstadt anhand der vor den Eingängen in den Boden eingelassenen Stolpersteine auffinden lassen, kehrte wieder nach Hause zurück. Weder gegen Juden noch gegen sonst irgendeine Bevölkerungsgruppe dürfe sich so etwas nahezu Unvorstellbares jemals wiederholen, betone Max am Mikrophon.

Eigentlich hätten die Mitglieder der Courage-AG, die sich aus Teilnehmern von der Unter- bis zur Oberstufe zusammensetzt, gemeinsam mit vielen anderen Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Jahrgangsstufen, am Vormittag die offizielle Gedenkstunde der Stadt Michelstadt auf dem Rathausplatz mitgestalten wollen. Ein Virus hat es verunmöglicht.

Aber mit Empathie für die Opfer und mit dem Bewusstsein für die anhaltende Notwendigkeit, auch ganz aktuell auf krankmachende virale Bedrohungen unseres politischen Systems mutig hinzuweisen, hat die Arbeitsgemeinschaft trotzdem einen Moment des Innehaltens erreicht, das sicherlich in anschließenden Gesprächen in den Klassen- und Kursräumen weiteren Ausdruck fand. Dem Geschehen und seiner Aufarbeitung Ausdruck zu verleihen, ist auch die Absicht der offenen Ausstellung in der Aula der Schule, die noch die weitere Woche über von der Schulgemeinde besichtigt werden kann.

CHRISTIANE SCHWERMER